9. The North Face Ultra-Trail du Mont Blanc 2011
Torsten Hentsch | 21. September 2011Nun liegt mein längster, höchster und anstrengendster Lauf schon wieder ein paar Tage zurück. Um es vorweg zu nehmen, einerseits bin ich unheimlich stolz auf das Erreichte und anderseits ein wenig traurig, dass es vorbei ist. Doch der Reihe nach.
Der Traum an der Teilnahme des Ultra-Trail du Mont Blanc (UTMB) reifte schon eine ganze Weile in mir. Vor zwei Jahre etwa nahm er klarere Formen an. Mit dem Thüringen Ultra 2009 sammelte ich meine ersten Punkte für die Teilnahme. Um am UTMB teilzunehmen, muss man mindestens zwei erfolgreich beendete Läufe über entsprechende Längen vorweisen. Damals benötigte man noch vier Punkte. Für den Thüringen Ultra gab es zwei davon. Für das Jahr 2010 suchte ich deshalb nach einem Lauf, der mir die fehlenden zwei Punkte lieferte. Der Rennsteig-Supermarathon bringt leider nur einen Punkt. Als Highlight wählte ich den EcoTrail in Paris. Ein recht ruppiger Trail mit kurzen giftigen Anstiegen in der Natur um Paris. Ziel ist die erste Plattform auf dem Eiffelturm. Nach dem Lauf musste ich allerdings feststellen, dass die Bedingungen für die Teilnahme am UTMB verschärft wurden. Es waren nun fünf Punkte nötig, die in zwei Läufen zu sammeln waren. Ich brauchte also noch einen Lauf, der mir die fehlenden drei Punkte lieferte. Dies sollte der neu ausgetragene Mountainman in der Schweiz sein. Ein sehr anspruchsvoller Hochgebirgs-Trail vom Pilatus bei Luzern nach Engelberg. Er sollte mir auch zeigen, wie anspruchsvoll diese Wege im Hochgebirge sind und wie wenig man seine gelaufen km-Zeiten aus dem Flachland ins Gebirge hochrechnen kann! Ich brauchte damals für die 81 Kilometer lange Strecke fast 14 Stunden. Mit dem Erreichen des Ziels in Engelberg hatte ich meine fünf Punkte zusammen und viele Erfahrungen für den UTMB gesammelt.
Nun konnte ich mich anmelden. Die Anmeldung zum UTMB ist immer um den Jahreswechsel für ein paar Wochen frei geschaltet. Gleich am ersten Tag trug ich meine Anmeldung ein. Dafür waren die Angaben zu den Wertungsläufen nötig. Einige Ergebnisse fand das System gleich online, auf andere musste ich ein paar Tage warten, bis sie von den Organisatoren bestätigt wurden. Ca. eine Woche später, mit dem Eingang der Wertungsläufe und meiner Geldüberweisung, wurde meine Anmeldung angenommen. Nun konnte ich nur noch die Daumen drücken, dass ich ausgelost würde. Es melden sich traditionell immer mehr an, als starten können. Insgesamt sind 2.300 Startplätze zu vergeben. Einige waren davon aber schon für Läufer vergeben, die 2010 nicht zur Auslosung kamen. Ich hoffte, dass ich gleich ausgelost würde. Ansonsten müsste ich langes Jahr auf meinen Start in 2012 warten. Ende Januar erhielt ich dann aber die Email, dass ich dieses Jahr einen Startplatz hätte. Ich weiß nicht mehr genau, ob die Freude oder Aufregung größer war. Nun galt es, sich gut vorzubereiten. Ich wollte in jedem Monat an einem Marathon oder Ultramarathon teilnehmen. Weiterhin waren einige lange Trainingsläufe über 40 bzw. 50 km nötig, um die Form zu erreichen den UTMB zu überstehen. Nichts anderes war mein Ziel.
Los ging es im Januar mit den 50 km von Rodgau, die ich ganz locker anging. Im Februar nutzte ich das „schöne Wetter“ im Kalibergwerk Merkers beim Kristallmarathon. Im April reiste ich in die Tschechische Republik zum 50. Kilometerlauf in Mníšek pod Brdy. Alles lief planmäßig. Zum Rennsteiglauf wollte ich als Nebenprodukt meines Trainings mich an der 7-Stunden-Grenze testen. Dies ging leider daneben. Ich kam „nur“ auf meine alte Bestzeit. Der Höhepunkt sollte der neu ausgeschriebene Zugspitz-Ultratrail in Grainau über 101 Kilometer sein. Bei der Generalprobe zum UTMB musste ich allerdings bei Kilometer 81 wegen Achillessehnen-Problemen aufgeben. Gleichzeitig merkte ich, dass meine Fähigkeit bergab zu laufen, grottenschlecht war. Diese versuchte ich im Urlaub in Südtirol Ende Juli zu verbessern. Danach hoffte ich, dass ich gut vorbereitet für den UTMB war.
Beim Hasentallauf, zwei Wochen vor dem Start, erwähnte Michael Brucha, dass ich am UTMB teilnehmen wollte. Jens Hennig von der Ostthüringer Zeitung brachte diese Neuigkeit wenige Tage später in der Regionalbeilage unter. Kaum stand es in der Zeitung, was für verrückte Sachen ich machen wollte, rief auch schon das Radio bei mir an und wollte ein Interview. Nun dachte ich, kann es gleich „die ganze Welt“ erfahren. Einerseits war mir bewusst, dass ich mir damit einen ordentlichen Druck aufbauen würde. Anderseits brauchte ich auch die Unterstützung meiner Freunde, diese Strecke zu überstehen.
Am Donnerstag den 25. August 2011 ging es von zu Hause mit einigen Turbulenzen los. Mich begleiteten meine Frau Anne und unsere Kinder Ilona und Axel. Die erste Übernachtung auf dem Weg nach Chamonix war für Freiburg im Breisgau vorgesehen. Somit hatten wir für den Freitag nur ein paar Stunden bis zum Startort zu fahren. Wir wollten den Startort nicht zu spät erreichen, um alle Unterlagen in Ruhe zu holen und allen Eventualitäten aus dem Wege zu gehen. Gegen 11 Uhr waren wir in Chamonix. Recht zügig fanden wir das Sportzentrum, wo es die Startunterlagen gab. Auf dem Weg dorthin begegneten wir schon Finishern des TDS, einem kleineren Lauf über 110 Kilometern. Ich hoffte, dass ich auch noch so frisch im Ziel aussehen würde. Im Sportzentrum wurde als erstes unsere Personalien festgestellt und uns eine Checkliste in die Hand gedrückt. Am folgenden Stand kontrollierte man unsere Rucksäcke auf die Pflichtgegenstände: Regenjacke und –hose, langes Trikot, lange Hose, Mütze, Handschuhe, Trinkbecher, Mobiltelephon, Pfeife, zwei Lampen mit Ersatzbatterien, Verpflegung, Trinkblase, Rettungsdecke und eine selbstklebende Binde. Danach mussten wir unseren Kontrollzettel unterschreiben, dass wir nichts wieder auspacken würden. Unser Rucksack wurde anschließend mit einem roten Kabelbinder markiert. Weiter ging es mit Startnummer mit Chip und einem zweiten Chip. Dieser zweite Chip wurde mit einem Band unlösbar am Handgelenk angebracht. Als letztes bekamen wir den Läufersack. In diesen konnten wir Wechselsachen nach Courmayor (Italien) transportieren lassen.
Auf der Fahrt nach Chamonix berichteten die Wetterfrösche bereits, dass am Abend mit schweren Gewittern und Unwettern zu rechnen sei. Da im letzten Jahr der Lauf bei Kilometer 21 abgebrochen wurde, befürchteten wir, dass es Probleme mit dem Start geben würde. Der Veranstalter reagiert darauf, indem er uns bei der Abholung der Startunterlagen mitteilte, dass der Lauf erst um 23:30 Uhr starten würde. Dafür würde uns der letzte Berg nach Vallorcine erspart bleiben. Mit gemischten Gefühlen fuhren wir erst einmal in Richtung unseres Quartiers. Um die Zeit zu überbrücken und auch um meine Kopfschmerzen los zu werden, versuchten wir etwas zu schlafen. So langsam zogen die ersten Gewitter auf. Auf dem Regenradar kamen aber immer neue Staffeln von Regengüssen in unser Gebiet. Gegen 21 Uhr machten wir uns bei strömenden Regen und einigen Blitzen auf den Weg. Die Temperaturen waren von 25 auf 10°C gefallen. Ich hatte mich mit Regenjacke aber noch kurzen Hosen gegen den Regen geschützt. In Chamonix mussten wir noch meinen Läufersack mit Wechselsachen für Courmayor (Italien) abgeben. Danach hatten wir noch eine gute Stunde Zeit. Deshalb verkrochen wir uns in eine Bar und tranken noch eine Cola (oder Coca wie die Franzosen sagen).
Gegen 23 Uhr begaben wir uns ins Startgelände. Trotz des Regens und der kühlen Temperaturen gab es eine ausgelassene Stimmung auf dem Platz. Es erfolgten einige Ansprachen auf Französisch, die ich leider nicht verstand. Einige Minuten vor dem Start erlebte ich den bewegensten Moment. Die Erkennungsmusik von Vangelis – Conquest of Paradise setze ein. Zwei Jahre hatte ich mich auf diesen Augenblick vorbereitet. Einige Male hatte ich mir auf YouTube das Video vom Start mit dieser Melodie angesehen. Jetzt stand ich mit meiner Familie und unzähligen anderen im strömenden Regen auf diesem Platz und erwartete selbst den Start. In diesem Augenblick wurden meine Augen nicht nur vom Regen feucht und die Gänsehaut stammte definitiv nicht von der kühlen Witterung. Anne, Ilona und Axel wünschten mir alles Gute für den Lauf und wünschten mir und sich, dass ich gesund wieder ankommen würde. Wir hatten vereinbart, dass wir uns in Courmayeur auf der italienischen Seite des Berges treffen wollten. Der Startschuss fiel und 2300 Läufer bewegten sich erst langsam und dann schneller durch die Massen der Zuschauer, die uns euphorisch und teilweise ganz schön verrückt zujubelten. Bald erreichten wir die Stadtgrenze. Eine kurze Zeit ging es noch auf der Landstraße neben der Bahnlinie entlang. Dann bog der Tross rechts von der Straße ab. Weiter ging es einen breiten parkähnlichen Weg an einem Fluss entlang. Das Tempo lag recht hoch. Dies kam mir entgegen. Ich wollte nicht unbedingt im dichtesten Pulk den ersten Berg bezwingen. Schnell erreichten wir die erste Verpflegung in Les Houches. Viele angereiste Angehörige und Anwohner machten die Nacht zum Tag. Immer noch im strömenden Regen feuerten sie uns an.
In Saint-Gervais (21 km) war ich in knapp drei Stunden angekommen. Hier gab es die erste große Verpflegung. Und was gab es nicht alles! An Getränken: Wasser, Coca, Tee, Kaffee; An salzigen Essen: Salami, Salami mit Nüssen, Käse, Brühe mit Fadennudeln, TUK-Kekse, Erdnüsse, Salzbrezeln; an süßem: Kekse mit und ohne Schokolade, bittere Schokolade, Rosinen, andere Trockenfrüchte, verschiedene Arten an Kuchen sowie an Obst: Bananen, Orangen und Äpfel. Man hätte die halbe Nacht gebraucht um sich durchzufuttern. Ich nahm von Kaffee, Kuchen und Obst reichlich. Die Trinkblase hatte ich bisher wenig gebraucht. Noch war sie gut gefüllt. Der Regen sorgte für gute Abkühlung. So verlor man recht wenig Flüssigkeit unterwegs.
Weiter ging es relativ moderat ansteigend an der Arve entlang durch Laubwälder. Das Feld zog sich so langsam auseinander. Hier konnte ich recht gut laufen. Langsam ließ auch der Regen nach. Dafür stiegen einzelne Nebelschwaden auf. Müdigkeit verspürte ich in der ersten Nacht nur kurzzeitig.
Weiter ging es bis zur nächsten Verpflegung in Les Contamines bei Kilometer 31 (kurz vor vier Uhr). Ich hatte mir einen Zeitplan zurechtgelegt. Auf dem ersten Drittel war ich um einiges schneller als mein Plan vorsah. Ich hatte mir den Plan aber auch nur als Richtschnur und nicht als Zielvorgabe gemacht. Beruhigend war mein relativ komfortables Zeitpolster auf die Grenzzeiten. Nach dieser Verpflegung verlief die Strecke noch relativ eben, immer noch am Fluss. Im Dunkel tauchte im grellen Scheinwerferlicht eine Kirche auf. Im Licht von einem Lagerfeuer und Fackeln jubelten uns selbst um diese frühe Morgenstunde Zuschauer zu. Wie ich später erfuhr, war es Notre Dame de la Gorge. Von hier begann der Aufstieg in hochalpines Gelände. Mir kam es vor, als ob der erste Teil des Weges betoniert sei. Es könnte aber auch Fels gewesen sein. Alle kämpften mit sich und der Steigung. Insgesamt konnte ich mich wenig unterhalten. Leider waren von den 2300 Startern nur gut 100 Deutsche. Selbst Belgien hatte mehr Starter als Deutschland.
Auf der Hälfte des Berges erreichte ich nach 6:13:59 h bei Kilometer 39 die Verpflegung La Balme. Die Sterne waren mittlerweile zu sehen. Die Kälte strömte von den Gletschern uns entgegen. Ein großes Lagerfeuer wärmte uns und einige trockneten auch ihre Sachen am Feuer. Die Stimmung hier überwältigte mich wieder einmal. Ein kurzer Plausch mit einem österreichischem Pärchen und schon ging es weiter gen Col du Bonhomme. Auf den nächsten fünf Kilometern waren schließlich noch 800 Höhenmeter zu steigen. Pünktlich zum Sonnenaufgang erreichte ich den Berg. Mit einer einmaligen Aussicht mit fantastischen Farben begrüßte uns der Berg. Viel zückten hier ihren Fotoapparat um diese Momente einzufangen. Wann ist man schon nach einer Gewitternacht zum Sonnenaufgang auf 2486 Metern Höhe und ist von den ersten Schneefällen begeistert? Die kalten Temperaturen sorgten dafür, dass ich unterwegs meine Beinlinge übergezogen hatte und die Schirmmütze gegen meine warme Mütze tauschte.
Von hier ging es im flotten Tempo den Berg wieder runter. Ich konnte immer noch recht gut laufen. Schließlich waren noch fast drei Viertel des Weges vor uns. In der Ferne hörte ich einen Hubschrauber kreisen. Wie ich später feststellte, machte er fantastische Bilder von dieser Bergabstrecke. Leider bekam er mich selbst nicht auf die Linse.
Den Verpflegungspunkt Les Chapieux bei Kilometer 50 erreichte ich um 8:12 Uhr. Eine warme Nudelsuppe und andere Leckerein stärkten mich wieder. Am Zeltausgang kontrollierte man unsere Pflichtausrüstung auf ein Mobiltelephon.
Von hier ging es relativ leicht ansteigend in einem Tal ca. sechs Kilometer gut vorwärts. Ein älterer deutscher Läufer, dessen Namen ich leider vergessen habe, begleitet mich auf diesem Stück. Er berichtete mir, dass er bereits zum vierten Mal hier sei. Auch im Vorjahr war er gestartet und musste bei Kilometer 21, wie alle anderen auch, das Rennen abbrechen. Er meinte aber, dass der Regen dieses Jahr noch deutlich stärker gewesen sei als 2010. Allerdings hatte es im letzten Jahr vorher schon sehr lange und heftig geregnet. Den Lauf wegen dem Wetter zweimal hintereinander abzubrechen könnte allerdings dafür sorgen, dass er generell in Frage gestellt würde. Weiterhin bemerkte er, dass der Start in der Dunkelheit noch emotionaler war als am späten Nachmittag. Dies konnte ich nur bestätigen. Weiterhin freute er sich, dass er durch den um fünf Stunden verschobenen Start, diese Jahr Landschaft sah, die er sonst nur im Dunkel durchlief.
In Richtung Col de la Seigne verschlechterte sich langsam das Wetter. Anfangs nieselte es leicht. Je höher wir kamen, umso heftiger wurde der Wind und aus Regen wurde Schnee. Der Gipfel begrüßte uns mit einem Schneeschauer, der sich gewaschen hatte.
Alle sahen zu, dass sie diese unwirtliche Höhe wieder verließen. Gleichzeitig überquerten wir die Grenze nach Italien. Mit jedem Höhenmeter besserte sich das Wetter wieder. Lac Combal kam schnell näher.
Der folgende Aufstieg gewährte uns fantastische Ausblicke auf das Mont Blanc-Massiv. Mächtige Gletscher glitten an den Hängen hinab. Riesige Seiten- und Endmoränen zeigten jedoch, dass diese schon einmal deutlich größer waren. Die Hälfte ihrer Länge, seit der Hochzeit ihrer Ausdehnung um 1850, verloren sie bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Beim Aufstieg zum Arête Mont Favre wurde es deutlich wärmer. Schnell entledigte ich mich aller wärmenden Kleidungsstücke und lief ab dort in kurzer Hose und mit kurzem Trikot. Obwohl der Aufstieg nur 450 Höhenmeter betrug, merkte ich doch so langsam, dass meine Kräfte in einer Höhe über 2000 Meter schwanden. Einige Male musste ich den Aufstieg kurz unterbrechen um Luft zu schnappen.
Von dort oben ging ich dann froh gelaunt bei bestem Wetter runter zur Erfrischungsstation Col Chécrouit. Hier herrschte ausgelassene Hüttenstimmung. Viele Bergwanderer waren neben uns Läufern unterwegs. Ich hätte dort bei dieser guten Stimmung auch länger verbringen können. Ich wollte aber so schnell wie möglich den rasanten Abstieg nach Courmayeur angehen. Runter lief es echt gut. Ich konnte im wilden Laufschritt einige Plätze gut machen. Unten bemerkte ich, dass ich mir eine Blase zwischen zwei Zehen gelaufen hatte. Der jetzt trockene Dreck rieb zwischen diesen beiden. Schnell klebte ich die offenen Stellen mit Tape ab. Tape als Ausrüstungsgegenstand kann ich nur jedem empfehlen.
In der großen Verpflegungsstation in Courmayeur (Kilometer 78) nahm ich meinen Läufersack um 15 Uhr in Empfang und besorgte mir eine große Portion Nudeln mit Tomatensoße. Im Med.-Punkt ließ ich meine Blase noch desinfizieren und gut verbinden. Beim Blick auf mein Mobiltelephon wurde ich etwas nervös. Der Veranstalter hatte mir um 13:45 Uhr folgende Nachricht gesendet:
Info UTMB: Streckenänderung nach Champex, Bovine unerreichbar wegen Wetterschäden von gestern. Die Strecke wird über Martigny umgeleitet. = 170 km, 9700 mD+
Also doch, noch länger und mehr Berge! Ich nahm es gelassen. Was waren schon 4 km und 200 Höhenmeter?!
Weiter ging es quer durch den Ort. Telefonisch hatte ich mit meiner Familie vereinbart, dass wir uns an der Kirche treffen wollten.
An der Kirche war aber keiner! Schnell angerufen – sie saßen noch in der Eisdiele. Anne holte mich ab und so konnte ich auch noch eine Kugel Eis schleckern. Es hätte ruhig mehr sein können. Eis als Verpflegung, das gab es noch nicht mal hier bei den Franzosen. Man sollte es einführen! Alle drei wünschten mir weiterhin alles Gute für den längeren Teil der Strecke.
Oberhalb vom Ort suchte ich mir ein schattiges Plätzchen auf einer Wiese. Ich brauchte für die jetzt kommende Nacht noch eine Mütze voll Schlaf. Schnell war ich für 15 Minuten eingeschlafen. Dies weckte wieder neue Lebensgeister in mir. Der Aufstieg zur Refuge Bertone zog sich elend in die Länge. Wieder musste ich ein paar Mal stehen bleiben um Luft zu sammeln. Oben wärmte noch etwas die Abendsonne (17:40 Uhr).
Relativ eben auf Gebirgspfaden ging es weiter zur Refuge Bonatti. Kurzen Toilettenstop und weiter!
Nach Arnuva runter zog so langsam der Abend auf. Hier wurden wir schon wie kleine Helden empfangen.
Es sollte der schwere Aufstieg zum Grand Col Ferret folgen. Ich dachte vor dem Lauf eigentlich, dass meine Kopflampe ausreichend hell sei. Die Läufer hinter mir überstrahlten jedoch oft meine Lampe. Beim nächsten Mal musste ich mir eine bessere besorgen! Die Nacht wurde recht schnell sehr kalt und neblig. Ich zog alles an, was ich mit hatte. Oben herrschten wieder Temperaturen um den Gefrierpunkt. Kurz vor 23 Uhr überschritt ich die Grenze zur Schweiz. Auf dem Gipfel fiel mir die Orientierung im Nebel etwas schwer. Die vielen parallel verlaufenden Pfade verwirrten mich in der Dunkelheit. Welcher war der richtige? Wo blinkte der nächste Markierungspfahl mit Reflektoren auf? Runter zu wurde es besser. Ich schloss mich einer größeren Gruppe an. So konnte ich ziemlich am Ende der Gruppe mit traben. Um 1:16 Uhr erreichten wir La Fouly. Ein kleines Örtchen in den Schweizer Bergen.
Die Müdigkeit breitete sich in mir aus. Eigentlich hätte ich jetzt gern ein paar Minuten geschlafen. Die Schlafgelegenheit gab es jedoch erst in Champex-Lac in 14 Kilometer Entfernung.
Es half nichts. Weiter!!! Kurzer Toilettenstop im Wald. Weiter! Jetzt war ich fast allein. Neben mir rauschte der Dranse de Ferret. Der Pfad ging erst über großes Geröll. Hier geht wohl im Frühjahr das Hochwasser durch! Dann schlängelte sich der Weg dicht am Tal entlang. Die Müdigkeit bemächtigte sich meiner. Ich hatte fortwährend das Gefühl, dass ich den Weg bereits kannte und bald eine Brücke kommen müsste. Völliger Blödsinn! Ich war noch nie in dieser Gegend. Plötzlich tauchte die Brücke über mir auf. Nein! Es waren nur hohe Fichtenstämme. Führt der Läufer vor mir einen Hund mit? Der Schatten an der Felswand von seiner Stirnlampe sieht doch aus wie ein Hund. Wieder falsch! Wie kann die Stirnlampe einen Schatten nach links werfen? Ich konnte mich gegen die Halluzinationen und die Déjà-vu-Erlebnisse kaum wehren. Jetzt musste ich mich sogar darauf konzentrieren, bei welchem Lauf ich überhaupt war! Der blanke Wahnsinn! Ich brauchte Schlaf! Unbedingt! Die nächste Parkbank wollte ich nutzen.
Da kam eine. Ich versuchte mich zu entspannen. Die Nacht war jedoch zu kalt. Ich musste weiter. Langsam kam man wieder in bewohnte Gegenden. Die Strecke verlief jetzt auf Straßen. Anwohner stellten ein Lagerfeuer und Kaffee zu Verfügung. Grandios! Die Müdigkeit war nicht mehr so übermächtig.
Ab Kilometer 120 ging es wieder bergauf. Bis Champex-Lac waren noch vier Kilometer und 450 Höhenmeter zu laufen. Irgendwann hörte man die Stadt. Ich war glücklich um 5 Uhr dort anzukommen. Dies waren mit Sicherheit die schwersten 14 Kilometer, die ich je gelaufen bin!
Kurz nach 5 Uhr kam ich in Champex-Lac an. In der Nacht hatten wir eine weitere SMS mit den neuen Grenzzeiten erhalten. Ich hatte sie aber noch nicht gelesen. In der Station nahm ich an, dass die nächste Grenzzeit in zehn Kilometer Entfernung bereits in 90 Minuten sei. Ich wollte deshalb schon aufgeben. Diese kurze Zeit hätte ich niemals geschafft. Aber wieder hatte mir die Müdigkeit ein Schnäppchen geschlagen. Trient in gut 20 Kilometern sollten wir spätestens 14:15 Uhr verlassen. „Na das sollte doch wohl locker zu schaffen sein!“, dachte ich mir. Hier legte mich für eine halbe Stunde in das Schlafzelt. Kurze Zeit später war ich fest eingeschlafen. Kurz bevor mein Wecker klingelte, wachte ich auf. Ich war gut erholt.
Champex-Lac liegt idyllisch an einem See. Ich erinnerte mich, dass ich diese Bilder schon kannte. Mein Gehirn funktionierte wieder! Hurra! Der Tag brach an und brachte weitere Lebensgeister.
Locker führte der jetzt neue UTMB-Weg ins Tal hinab. Eigentlich sollte jetzt der schwere und gefürchtete Aufstieg zum Bovine erfolgen. Wir liefen jedoch einer Straße folgend hinab nach Bovernier (600 m NN). Dort kreuzten wir eine größere Straße und stiegen auf der gegenüberliegenden Seite durch einen Weinberg wieder hinauf (1060 m NN). Wieder machten sich neue Blasen an meinem Fuß bemerkbar. Und wieder klebte ich sie kurzer Hand ab. In den Weinbergen kam ich mit Ricarda Bethke ins Gespräch. Sie ist eine von zwei deutschen Frauen, die gefinisht hat! Dadurch verging die Strecke bis Martigny wie im Flug. Danke nochmals Ricarda.
Da Martigny nur auf einer Höhe von ca. 500 Metern liegt, waren jetzt bis Trient natürlich ordentlich Meter zu machen. Bis zum Col-de-la-Forclaz waren dies gut 1000 Meter in der Mittagshitze. Die Anwohner hatten Mitleid mit uns und spendeten unterwegs Wasser und Orangensaft. Super. Berghoch musste ich Ricarda ziehen lassen.
In Trient angekommen schmerzten meine Füße doch sehr. Ich begab mich sogleich zum Podologen (Med.-Punkt). Ich hatte mir neue Blasen unter beiden Fußballen gelaufen. Mit breitem Tape wurde dies fachmännisch abgeklebt. Von Trient ging es weitere 750 Höhenmeter rauf. Dies sollte nun aber wirklich der allerletzte große Berg gewesen sein.
Bergrunter konnte ich zwar noch etwas laufen. Die Beine wurden jedoch immer schwerer. Es kostete mich jetzt immer mehr Überwindung in den Laufschritt zu kommen. Die vorletzte Verpflegung in Vallorcine sollte nur noch 16 Kilometer von Chamonix entfernt sein. Da ich dafür ein komfortables Polster von 4:50 Stunden bis zum Zielschluss hatte, beschloss ich, von hier an nur noch zu wandern. Der Veranstalter hatte uns in einer SMS mitgeteilt, dass es ja nur noch im Tal entlang gehen sollte. Der Weg zog sich besonders nach der letzten Verpflegung in Argentière recht zäh. Üble Wurzel- und Steinwege wollten doch unbedingt verhindern, dass ich ins Ziel käme. Und was war das? Einige Kilometer vorm Ziel stieg die Strecke doch tatsächlich nochmals einige 100 Meter an. Ich sehnte das Ziel herbei. Die Passanten an der Strecke waren leider auch keine Hilfe. So sprangen die Kilometerangeben bis zum Ziel bei ihren Ansagen von 3 auf 6, 2, 3 und 2 Kilometer. Vielen Dank! Ich glaube die waren gekauft, um uns die letzten Kilometer zu versauern. Aber irgendwann ist jeder Lauf zu Ende. Ich kam an den Stadtrand von Chamonix. Schnell nochmal alle Sachen in Ordnung gebracht und die Deutschlandfahne rausgeholt. Jeder zollte einem mit dem viel gehörten „Bon Courage“ Respekt und feuerte einen für die letzten Kilometer an. Hier wurde jeder wie ein Held empfangen! Ab dem Fluss konnte ich sogar wieder in den Laufschritt übergehen. Meine Familie wartete schon seit Stunden auf mich. Sie begleiteten meinen Lauf bis ins Ziel. Überall wurde geklatscht und gejubelt.
Dieser letzte Kilometer hätte ruhig noch etwas länger sein können! Mit einem Sprung überquerte ich die Ziellinie. Ich bedankte mich überschwänglich bei einem der Organisatoren für diesen wunderschönen Lauf. Meine Finisherweste zog ich mit stolz geschwellter Brust über.
Eine Minute nach meinem Zieleinlauf prasselten die Glückwunsch-SMS auf Annes Handy so ein, dass es abstürzte. Wie wir später erfuhren, hatten unsere Freunde meinen Lauf live im Internet verfolgt. Sie konnte alle Zwischenzeiten einsehen und bekamen sogar Hochrechnungen, wann ich an der nächsten Kontrollstelle eintreffen musste. Deshalb sorgten sie sich, da ich auf den letzten Kilometern so langsam unterwegs war. Für sie war es super spannend alles mitzuerleben.
Nach dem ich geduscht hatte, fuhr mich meine Familie nach Freiburg im Breisgau ins Hotel. Unterwegs und im Hotel verfiel ich in einen tiefen Schlaf. Den nächsten Tag ging es weiter nach Hause. Bis auf meine Blasen an den Füßen ging es mir recht gut. Der Muskelkater hielt sich in Grenzen. Allerdings hatte ich zwei Tage lang dicke Füße.
Zu Hause angekommen, traute ich meinen Augen nicht. Meine verrückten Freunde vom „Ollen Dutzend“ hatten mir ein bemaltes Bettlacken mit einem tollen Glückwunsch vors Haus gehängt. Und das war noch nicht alles! Kurze Zeit später gab es zusammen mit ihnen einen tollen Sektempfang bei unseren lieben Nachbarn Trautvetters! Ich war sprachlos. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Vielen, vielen Dank an meine Familie Anne, Ilona und Axel, meinen Eltern, Irene, das „Olle Dutzend“, meinem Bruder und Annika, meinen Lauffreunden und allen die ich jetzt vergessen habe, dass ihr mir die Daumen gedrückt habt. Ohne das Wissen, dass ihr mich „verfolgt“, hätte ich es wahrscheinlich nicht geschafft.
Ergebnis 9. The North Face Ultra-Trail du Mont-Blanc
Name | Datum | Veranstaltung | Strecke | Zeit | Platz ges. | Platz AK | Teiln. ges. | Teiln. AK | AK |
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Torsten Hentsch | 28.08.2011 | 9. The North Face Ultra-Trail du Mont Blanc 2011 (Nr. 2328) | 170 km | 44:38:25 | 1016 | 462 | V1 H |
Quelle der Profilbilder: UTMB Cartes des Parcours 2011