Oslo-Bergen-Trail 2023
Torsten Hentsch | 1. August 2023Vorbetrachtung
Oslo-Bergen-Trail der Name kling unspektakulär. Hinter dem Namen stand aber eine knallharte Herausforderung der besonderen Art. Die Distanz wurde offiziell mit 495 km angegeben mit einem Höhenunterschied von 16.000 Höhenmetern. Die Strecke sollte in neun Tagen (und Nächten) und acht Stunden bewätligt werden. Bereits 2021 hatten Tim Fischer und ich uns dieser Herausforderung stellen wollen. Leider kamen wir 2021 auf Grund der COVID-Einreiserestriktionen des norwegischen Staates erst drei Tage nach dem Start des damaligen Premierenlaufes ins Land. Der Veranstalter ermöglichte uns damals, dass wir bei Km 200 ins Rennen einsteigen konnten. Völlig übernächtigt starteten wir einige Stunden hinter den letzten Teams im Kontrollpunkt Torsetlia. Trotz Bemühungen gelang es uns damals nicht die Zeit aufzuholen. Nach 190 Kilometern mussten wir damals das Rennen in Voss beenden. Die erste Idee zur Teilnahme 2021 ging von mir aus. Dafür, dass wir nochmals unter besseren Bedingungen starten wollten, zeichnet Tim Verantwortung. Gedacht, gesagt und für 2023 angemeldet.
Was sind die weiteren Kennzahlen für diese Herausforderung? Der Lauf startete am 6. Juli 2023 am Stadtrand von Oslo unweit der Wettkampfanlagen vom Holmenkollen am Hotel Soria Moria. Der Weg war fast durchgehend nicht markiert und folgte Wanderwegen des Norwegischen Wandervereins DNT. Zur Orientierung war die Nutzung eines GPS-Gerätes zwingend notwendig. Teilweise ging es weglos durch Moore und das Fjell.
Gestartet wurde in Zweier- oder Dreierteams. Bei Dreierteams konnte ein Mannschaftsmitglied ausfallen. Dann durfte das Team das Rennen fortsetzen. Allein durfte man den Wettkampf nicht bestreiten. 2021 hatten sich mehr als 50 Teams für dieses Abenteuer gemeldet. Ein Teil konnte nicht einreisen, ein Großteil erreichte nur den ersten Kontrollpunkt. Nur sechs Teams schafften es 2021 ins Ziel. Wahrscheinlich aus Respekt vor der Aufgabe meldeten sich 2023 nur 15 Teams an.
Auf der Strecke gab es acht Verpflegungs- und Kontrollpunkte (CP). An den Kontrollpunkten 1, 3, 5, 6 und 8 galt es cut-off Zeiten einzuhalten. Sollte man diese Zeiten nicht schaffen, dann war man aus dem Rennen ausgeschieden. Dabei war nicht die Ankunftszeit sondern die Zeit des Verlassens des Kontrollpunktes maßgeblich. Vom Veranstalter war eine lange Liste von Ausrüstungsgegenständen gefordert, die jeder bzw. jedes Team ständig bei sich führen musste. Diese umfasste folgendene Gegenstände:
- Rucksack
- Wasserdichte Jacke und Hose
- Mütze aus Wolle
- Bufftuch
- Wasserdichte Handschuhe
- Steppjacke
- langes Wollunterhemd
- lange Laufhose
- Feste Trailschuhe
- zwei Kopflampen mit Ersatzbatterien
- Hüttenschlafsack
- Telephone mit Powerbank und Kabeln
- Getränkebehälter mit mindestens 1 l Inhalt
- Rettungsdecke
- Essen
- Becher
- Sonnencreme
- Zahlungsmittel
Pro Team musste weiterhin vorhanden sein:
- GPS-Gerät (Garmin)
- Papierkarte
- Kompass
- Bivac
- Erste-Hilfe-Set (mit Binden, Pflaster, Wundversorgung, Hydrokortison-Salbe, Schere bzw. Messer)
Vom Verstalter wurde jedes Team zusätzlich mit einem GPS-Tracker mit Satellitenverbindung ausgestattet. Diese Gerät sorgte einerseits dafür, dass jederzeit (aller drei Minuten) und von jedermann ermittelt werden konnte wo sich das Team befand und das Team auch im Notfall eine Hilferuf aussenden konnte. Dieser Tracker wurde an jedem Kontrollpunkt auf mindestens 90% Akkuladekapazität aufgeladen. Vorher durfte das Team nicht den Checkpunkt verlassen. Man konnte vorab aber auch mittels eines USB-C Kabels diesen Tracker selbst aufladen.
Neben der Hauptroute hatte der Veranstalter auch einige Alternativrouten besonders im letzten Drittel der Strecke ausgewiesen. Diese sollten auf Weisung bei Schlettwetter oder bei Zeitdruck genutzt werden. Diese Alternativen waren vom Untergrund einfacher aber teilweise länger und mit mehr Steigung, da auch im Tal gelaufen wurde, versehen.
Am Startort konnte jeder eine Tasche (Dropbag) mit Ausrüstungsgegenständen abgeben. Auf diese Tasche hatte man in den Kontrollpunkten mit cut-off Zeiten Zugriff. Dafür wurde sie vom Veranstalter entsprechend transportiert. In die Tasche deponierte ich Wechselschuhe, Nahrung, Wechselklamotten, Batterien, eine weitere Powerbank, ein USB-Ladegerät und weitere nützliche Gegenstände.
Anreise + Vorbereitung
Da für den Vortag von 10 bis 16 Uhr das Check-Inn vorgesehen war, reisten wir mit dem Flugzeug am 5. Juli morgens von Berlin mit dem Flugzeug an. Bereits in Berlin kamen wir mit einer weiteren deutschen Teilnehmerin Magdalane Paschke in Kontakt. Olso erreichten wir pünktlich und fuhren mit der Bahn zügig zum Hauptbahnhof. Dort begaben wir uns auf direktem Weg zum Laden des Norwegischen Wandervereins (DNT). Wir benötigten noch zwei Gaskartuschen, die wir nicht im Flugzeug transportieren durften. Weiterhin schloss ich eine Jahresmitgliedschaft beim Verein ab. Für einen Pfand bekommt man dann auch den Universalschlüssel für die Hütten ausgehändigt. Im Notfall sollte er uns den Zutritt zu den Hütten gewährleisten. Dafür hatten wir uns auch eine Liste der Hütten erstellt, an welchen wir vorbei kommen sollten. Nach einem kleinen Snack fuhren wir mit der S-Bahn gen Starthotel vorbei am Holmenkollen. Im Hotel war schon alles vorbereitet für den Start am kommenden Tag.
Der Check-Inn wurde sehr akribisch vom Veranstalter durchgeführt. Selbst die Sonnencreme und die Papierkarte musste vorgezeigt werden. Wir konnten alles korrekt vorweisen und erhielten an unseren Rucksack den Kontrollanhänger „Approved“.
Beim Check meines Garmingerätes musste ich erschrocken feststellen, dass zwar die Tracks korrekt geladen waren aber meine norwegische Karte nicht korrekt installiert war. Mit dem Sprecher des Laufes konnten wir dann an seinem PC die Karten ins richtige Verzeichnis verschieben. Schon lief es wieder! Ein kleiner Schreckmoment war gemeistert. Man hätte zwar nur nach dem Track laufen können, einfacher ist eine Orientierung aber, wenn man die Karte sieht. Tims Garmin-Gerät funktionierte einwandfrei. Nach dem Packen unserer Dropbags konnten wir diese abgeben und ein kurzes Schläfchen auf dem Zimmer nehmen.
Um 17 Uhr erfolgte das Briefing aller Teilnehmer. Neben den Teams über die 500 km gab es auch noch einige wenige Sololäufer über 100 und 200 km. Darunter auch zwei Deutsche, die in Norwegen leben. Beim Briefing wurde uns noch mitgeteilt, dass es noch eine Streckenänderung bei Km 327 gab. Eine Brücke wurde von der heftigen Schneeschmelze der letzten Wochen weggerissen. Wir mussten deshalb einen See auf der anderen Seite passieren. Die Stelle wo die Strecke abwich, kannten wir vom Lauf 2021 recht gut. Dort hatten wir eine Schlafpause eingelegt. Einige Teilnehmer berichteten weiterhin, dass die Strecke auch nach Voss (Km 375) noch einige Schwierigkeiten bereit hielt und das Rennen dort erst entschieden würde. Nach dem Briefing gab es ein leckeres Abendessen im Hotel. Dort konnten wir neue und alte Bekannte treffen. Alle wünschten sich einen erfolgreichen Lauf. Anschließend verschwanden alle schnell in ihre Zimmer um ein letztes Mal eine geruhsame Nacht zu erleben.
Die erste Etappe
Pünktlich um 8 Uhr am 6. Juli wurde das Rennen gestartet. Für die ersten Tag meldeten die Wetterfrösche leichten bis mittleren Regen. So war es denn auch. Ich entschied mich deshalb gleich für den Poncho als Bekleidung. Bei moderaten Tempo und wenig Wind optimal. Mann und Rucksack bleiben trocken sowohl von Außen als auch von Innen, da genügend Luft an den Körper kommt. Bei viel Wind und sehr schwierigem Gelände ist der Poncho eher unpraktisch, da man seine Füße wenig sieht und der Wind das ganze stark anhebt.
Für die Kameras wurden die ersten Meter locker gelaufen. Doch schon bald sollte es auf Wurzel- und Steinwege in den Wald gehen. Solche Wege sind mit acht bis zehn Kilogramm Gewicht auf dem Rücken schlecht laufbar und hätten zu viel Kraft gekostet. Einige wenige Straßen und Schotterwege waren dann später leichter laufbar. Insgesamt hatten wir uns ausgerechnet, dass wir die erste Etappe von 95 Kilometer eventuell in 24 Stunden schaffen könnte. Dann hätten wir genügend Zeit am ersten CP um einige Stunden zu schlafen und neue Kräfte zu sammeln. Insgesamt hatten wir 30 Stunden Zeit für diese Etappe. Leider stellte sich dies schnell als Trugschluss heraus. Der Untergrund wurde sehr schnell sehr schwierig und kostete viel Zeit. Insbesondere die langen Abschnitte die durchs Moore gingen hielten uns auf. Die Nässe weichte unsere Füße stark auf und der von mir gewählte Hoka-Schuh erwies sich als etwas zu eng, so dass ich mir zwischen den Zehen Blasen lief die ich alsbald abkleben musste. Unsere Füße sollten die nächsten neun Tage nicht wieder trocken werden!
Bei Km 35 trafen wir auf die Kleinstadt Sundvollen. Dort konnten wir uns im Einkaufszentrum versorgen und eine kleine Rast einlegen. Ebenso hatte der Veranstalter bei Kilometer 62 die Hovinkoia Hütte offen gelassen. Dort konnten wir aus eigenen Vorräten uns eine Mahlzeit kochen. Bereits dort übernahmen wir die „Rote Laterne“ als letzte Mannschaft des Rennens. Nach der Rast brach die kurze Nacht an. Wenige Kilometer weiter wurden wir von einem Pärchen an einer Blockhütte (Km 66) schon erwartet. Sie beobachteten alle Teams auf der Homepage. So wussten sie, dass wir noch als letztes Team kommen mussten. Wir wurden freudig von ihnen mit einem Schnaps empfangen. Wir ließen uns nicht lang bitten. Und schon waren wir wieder in der Nacht verschwunden. Im Moor mussten wir auf einige kleinere Bachläufe aufpassen in den das Wasser durchaus mal bis zum Knie gehen konnte. Wir wir später erfuhren, war Magdalena in einem ähnlichen Loch in dieser Nacht bis zur Brust versunken. Ihre Teamkollegin musste so dort erst daraus befreien.
Im ersten Checkpunkt in Noresund (Km 95) wurden wir mit dem Titel „Atemlos durch die Nacht“ gegen 10:30 Uhr empfangen. Wir hatten also 26,5 Stunden für die 95 gebraucht. Viel mehr als wir erwartet hatten! So blieben uns nur 2 1/2 Stunden für die Rast mit insgesamt 1 1/2 Stunden Schlaf.
Zweite Etappe
Aus Noresund raus sollte es alsbald deutlich nach oben gehen. Von 130 Meter über NN auf den höchsten Punkt der Strecke dem Högevard mit 1459 m NN. Meistens ging es dabei auf relativ guten Wanderwegen zügiger voran. Kurz vor der Hütte trafen wir auf einem Schneefeld auf eine große Gruppe Rentiere. Damit hatten wir nicht gerechnet. Die Tiere hatten sich wohl auf Grund der Mücken auf die kalte Insel zurückgezogen.
In der Hütte Högevard (Km 115) kurz vor dem Gipfel wollten wir dann unbedingt den nötigen Schlaf uns holen. Um 19:30 Uhr trafen wir dort ein. Schnell schrieben wir uns ins Hüttenbuch ein und verkrochen uns schnell in die Betten. Endlich konnten wir uns drei Stunden Schlaf holen. Nach einer selbst zubereiteten Mahlzeit in der Hütte verließen wir diese und erreichten gegen Mitternacht den Gipfel. Gegen Mitternacht war es noch so hell, dass man problemlos eine Zeitung hätte lesen können. Erst gegen 1 Uhr war es dunkel mit einem hellen Streifen Licht am Horizont.
Zügig machten uns auf den weiteren Weg immer bedacht den nicht sehr deutlichen Weg nicht zu verlieren. Eine weitere Hütte (Km 128) nutzten wir am frühen Morgen für einen Kaffee. Im Zimmer schliefen noch alle. Wir versuchten so leise wie möglich zu sein.
Der Weg zog sich in die Länge. Besonders die Wegabschnitte, die sich durch die Moorbirken zogen, waren sehr schwer zu belaufen. Viele Steine, niedrig hängende Äste und sehr viel Wasser verzögerten unser Vorankommen. Am CP2 in Langefrag (Km 160) kamen wir am dritten Tag kurz vor 16 Uhr an. Die Versorgung war unter einem offenen Zelt aufgebaut. Vor uns war das Frauenteam: „Die Zombies“, angekommen. Fast gemeinsam verließen wir nach einer Stunde Schlaf auf einer Holzbank das Lager. Die nachfolgende Strecke erwies sich als gut laufbar. Dabei konnten wir die „Rote Laterne“ an die Zombies weiterreichen. Wir kamen gut voran.
Nach einem Aufstieg (Km 175) erwartet uns wieder eine Norwegerin. Dieses Mal gab es statt Schnaps Schokolade von ihr. Auch diese nahmen wir dankend an. Nach weiteren Kilometer machten wir uns für die dritte Nacht bereit. Dabei muss ich wohl meine Erste-Hilfe-Set verloren haben. Ebenso dabei war mein Hüttenschlafsack aus Seide und meine Rettungsdecke. Trotz zunehmende Müdigkeit und bissigen Mücken konnten wir fast fünf Stunden vor dem cut-off im CP3 in Vasstulan (Km 193) erreichen. Dieses Mal wurden wir mit besser Musik: „Hells Bells“, begrüßt. Wir freuten uns riesig, dass wir Zeit raus holen konnten.
Dritte Etappe – Über die Hardangervidda
Nach drei Stunden Schlaf und einem ausreichenden Frühstück verließen wir fast gemeinsam mit den „Zombies“ vier Minuten vor dem offiziellen cut-off um 7:56 Uhr den CP. Drei Tage waren rum! Die kommenden Kilometer kannten wir bereits von 2021 auch wenn der CP damals in Torsetlia war. Es ging viel über das Fjell mit sehr viel Gestrüp aus Weidenbüschen, Wacholder, Heidekraut und Heidelbeeren. Das Zeug kann einem ganz schön die Unterschenkel zerkratzen, deshalb hatte ich mir vorsorglich sehr fest Gamaschen besorgt, die mir bis unters Knie reichten. Sie leisteten gute Arbeit. Besser lief es sich, wenn es über die Rentierflechten ging. Allerdings waren auch längere weglose Passage dabei, die einem Zeit durch die ständige Navigation kosteten. Insgesamt zog sich der Weg in Richtung des kommenden CP in Kraekkja in die Länge. Am Kilometer 222 legten wir an der Brücke über den Fluss Numedalslagen unsere Rast für das Abendbrot ein.
In Kraekkja (Km 254) gab es keinen offiziellen cut-off. Trotzdem hatten wir eine Zeitvorgabe um abschätzen zu können, wo man lag. Wir kamen bereits 43 Minuten (7:43 Uhr am 4. Tag) später an als die vorgeschlagene Verlassenszeit. Deshalb gönnten wir uns auch nur zwei Stunden Schlaf. Dort wurden wir von der Helferin mit den Worten: „Willkommen in Westnorwegen. Jetzt wird es nasser!“, begrüßt. So sollte es sein! Beim Verlassen der Hütte regnete es und es sollte sich für den Tag auch nicht mehr ändern. Mühsam und müde schleppten wir uns über die Hochebene. Die Finsehütte wollte, wie schon vor zwei Jahren, nicht näher kommen. Wir benötigten den ganzen Tag um diese Strecke zu bewältigen. So langsam merkten wir den allgemeinen Kräfteverfall und die zunehmende Müdigkeit. Wir hatten uns ausgerechnet, dass wir pünktlich zum Abendessen in der großen bewirtschafteten Hütte sein wollten. Punkt 19 Uhr waren wir an der Finsehütte (Km 278) und konnten deshalb auch am Abendessen teilnehmen. Eine Vorsuppe, eine Lasagne und eine Dessert füllte etwas unsere leeren Speicher. Wir merkten nun auch, dass die Energieaufnahme auf der Strecke knapp war und wir aus unseren Körperreserven schöpfen mussten. In der Zwischenzeit war auch das Frauenteam: „Die Zombies“, an der Hütte angekommen. Leider musste eine Teilnehmerin bedingt durch ihre offenen Füße hier das Rennen beenden. Dies tat uns unendlich leid! Sie hatten sich so dich an unsere Fersen geheftet und Stärke gezeigt. Trotzdem ging es hier für sie nicht weiter!
Nach einer halben Stunde Schlaf im Kofferraum der Hütte ging es 21 Uhr wieder in den Regen hinaus. Dieser hatte mittlerweile an Stärke zugenommen. Für die kommenden 35 Kilometer bis zum Kontrollpunkt Nr. 5 hatten wir noch acht Stunden Zeit. Da es auf dem Radweg Rallervegen zügig voran gehen sollte, könnten wir den cut-off noch schaffen. Wir nahmen also die Füße in die Hand. Anfangs gelang es uns auch ein Tempo über fünf Kilometer pro Stunde einzuschlagen. Der Regen nahm weiter an Stärke zu und zu allem Überfluss frischter der Wind auf. Da die Temperaturen auch sanken schwanden unsere Kräfte zunehmend. Im Tal konnte man noch Schnee und Eis bedeckte Seen bestaunen. Besonders Tim kämpfte verbissen an meinen Fersen mit dem Schlaf. Er war ständig bemüht nicht im Gehen einzuschlafen. Seine einzigen Gedanken waren: „Dran bleiben! Wenn ich falle, dann nach rechts gen Bergseite.“ Ich wusste das nach ca. 20 Kilometer die Hallingskeid Hütte kommen müsste. Nach 20 Kilometer konnten wir auf dem Radweg aber nur vorbeifahrende Züge, Regen und Schneereste ausmachen.
Wo war nur die Hütte? Waren wir schon vorbei gelaufen? War sie überhaupt direkt am Weg? Das Denken viel uns sehr schwer. Nach weiteren 40 Minuten kamen Lichter oberhalb auf. Auch das waren andere Gebäude. Dann endlich weitere Hütten im Nebel. Ein davon war die erhoffte Hütte. Völlig durchnässt und durchgefroren kamen wir um 1:46 Uhr dort an. Die nassen Klamotten vom Körper. Die elektrische Heizung hochgedreht und in eine Wolldecke gehüllt. So konnten wir zwei Stunden etwas schlafen und Wärme und Kräfte tanken. 3:37 Uhr ging es weiter. Der Regen hatte endlich etwas nachgelassen. Die cut-off Zeit konnten wir aber nicht mehr schaffen! Später bemerkten wir erst, dass ein weiteres Team in der Hütte übernachtet hatte. Dieses musste dann am nächsten CP aussteigen.
So kam es, dass wir erst kurz vor 7 Uhr in Vatnahalsen ankamen. Der cut-off war um 5 Uhr abgelaufen!
Trotzdem weiter!
Wir überlegten eigentlich gar nicht. Für uns stand fest, wir gehen weiter und versuchen das Ziel trotzdem in Bergen rechtzeitig zu erreichen. Für die fehlenden 184 Kilometer hatten wir vier Tage und einige Stunden Zeit. Nach zwei Stunden Schlaf starten wir wieder in den Morgen. Den Tracker, hatte man uns nicht wieder gegeben. Wir waren jetzt offiziell privat unterwegs. Leider konnten uns dadurch Feunde und Familie nicht mehr online verfolgen. Deshalb sendeten wir gelegentlich, bei telefonischer Erreichbarkeit, unseren Standort.
Weiter ging es auf bekannten Wegen über einen Pass. Dieser fiehl uns dieses Jahr leichter, so dass wir nach knapp vier Stunden in Upsete (KM 323) waren. Dort hatten wir schon vor zwei Jahren eine Rast eingelegt. Weiter ging bis zu der beim Briefing genannten Stelle an der der Track auf dem Garmin nicht aktuell war. Wir fanden schnell den Weg am rechten Seeufer. Der Weg dort entlang war mühselig. Am Ende mussten wir den Fluss überschreiten. Wir dachten, wir sind im falschen Film. Keine Brücke über den reißenden Fluss! Dafür konnten wir die andere Brücke über den anderen Flussarm ausmachen, die angeblich nicht mehr vorhanden war. Wie sollten wir rüber kommen? Die Strömung war enorm und drohte uns mitzureißen! Über 20 Minuten suchten wir den Fluss ab nach einer Möglichkeit sicher ans andere Ufer zu kommen. Endlich machten wir eine Stelle aus, wo wir den Fluss passieren konnten. Später erfuhren wir, dass die andere Brücke tatsächlich nur noch aus einem wackligen Holzbalken bestand und man bis zur Hüfte im strömenden Wasser gestanden hätte.
Jetzt ging es steil nach oben. Wir erreichten bald die Schneefelder unter denen wir den fließenden Fluss hörbar orten konnten. Keine ganz ungefährliche Angelegenheit. Einige wenige Markierungen und Steinmännchen wiesen uns den herausfordernden Weg über den Pass. Dort kam immer mehr ein Sturm auf, der sich im oberen Drittel zu einem Orkan aufbaute. Möglichst schnell versuchten wir diesen unwirtlich kalten Ort zu verlassen und die am See liegende BT-Hütte (Km 341) zu erreichen. Dort kamen wir um 22:17 Uhr an. Nach einem warmen Abendessen verkrochen wir uns schnell in die Betten.
Eigentlich wollteten wir um 4 Uhr wieder starten. Die Müdigkeit bewog uns aber eine Stunde länger zu schlafen. Um 5 Uhr des sechsten Tages brachen wir wieder in Richtung Voss (gesprochen Woss) auf. Jetzt wurde der Weg leichter. Trotzdem brauchten wir bis 18 Uhr um den Bauernhof beim CP6 in Voss (Km 375) zu erreichen.
Wir hatten mit der Rennleitung vereinbart, dass wir dort nochmals versorgt wurden und wir auch ein letztes Mal auf unseren Dropbag zugreifen konnten. Danach sollte unsere Dropbag ins Ziel transportiert werden. Und wie wir versorgt und umsorgt wurden! Fredrik Fjose und seine Familie waren für den CP verantwortlich. Auf seinem Bauernhof konnten wir neue Kräfte tanken. Fredrik ist ein sehr guter Ultratrailläufer und hatte in Göttingen Landwirtschaft studiert. So kamen wir sehr schnell in Gespräch (in Deutsch). Nach dem Abendessen konnten wir in seinem Stabbur fünf Stunden schlafen. Eine Wohltat!
Auf Alternativrouten weiter gen Bergen
Bis Voss hatten wir die Orginalroute genommen. Wir hatten uns vorgenommen, die vom Veranstalter vorgeschlagenen Alternativrouten zu wählen. Die letzten zwei Teams vor uns hatten bereits auch die Alternativroute von Voss nach Vending nehmen müssen. Auf dem Weg dorthin folgten wir erst Straßen und Forstwege. Später wurde auch hier der Weg schwerer. Neben dem körperlichen Verschleiß zeigten sich auch Verschleißspuren an der Ausrüstung. Tims Schuhe verloren in dem sauren Wasser der Moore ihre blaue Farbe. Mein rechter Schuh entwickelte ein Loch an der rechten Außenseite. Trotzdem rieb er an meinem kleinen Zeh und verursachte Blasen dort. Kurzer Hand schnitt ich ihn weiter auf. Jetzt konnte nichts mehr reiben!
Gegen Mittag des siebenten Tages erreichten wir im Regen die Kiellandbu-Hütte (Km 409). Die winzige Hütte mit fünf Schlafplätzen war eines der Markenzeichen des Laufes.
Wir wurden von zwei Norwegerinnen mit Brot und Erdnussbutter bewirtet. Ein kurzer Mittagsschlaf rundete die Rast ab. Jetzt waren es weniger als 100 Kilometer bis nach Bergen. Wir hatten dafür noch ca. zwei Tage Zeit. In 14 Kilometern sollte die Vending-Hütte kommen. Diese wollten wir als Übernachtungsquartier wählen. Auch dort nutzten wir die Zeit für einen ausgiebigen Schlaf von fünf Stunden. Wir wussten, dass es auf der letzten Etappe durch die letzte Nacht keine Möglichkeit mehr gab zu übernachten. Deshalb hofften wir, so gestärkt wie möglich in die letzte Etappe zu gehen.
Letzte Etappe
Gegen 3 Uhr war die Nacht vorbei. Nach einem Frühstück brachen wir auf. Wir hofften, dass die Strecke langsam leichter werden würde. Um 9:32 Uhr erreichten wir den vorletzten CP Nr. 7 Kvitingen. Er war bereits wie erwartet geschlossen. Weiter ging es auf leichter zu begehenden Wegen und später auch auf weglosen Abschnitten durchs Fjell. Dort konnten wir teilweise den Fußspuren der Teams die vor uns waren folgen. Wir entwickelten uns zum Spurenleser. Wir versuchten das Tempo hoch zu halten. Gegen 21:20 Uhr des letzten Abends gelangten wir an den letzten CP Nr. 8 in Gullboten an einer Landstraße. Dort bereiteten wir uns unsere letzte warme Mahlzeit. Unsere Vorräte aus dem Dropbag und dem Rucksack waren weitesgehend aufgebraucht. Für die letzte Nacht und den kommenden Tag hatte ich noch eine Tafel Rittersport, zwei Riegel und ein kleines Gel. Das musste reichen! Tim ging es nicht besser! Wir teilten alles brüderlich. Trotzdem merkte man an jedem Anstieg die fehlende Energie.
Die letzte Nacht brach an. Auf guten Wegen kamen wir zügig voran. Dennoch mussten wir uns zumindest für zwei Stunden ein Nachtquartier suchen. Eine Bushaltestelle an einer Straße nutzen wir dafür. Eingehüllt in den Biwak versuchten wir ein wenig Schlaf zu bekommen und dabei nicht komplett auszukühlen. Nach zwei Stunden war Schluss damit! Weiter ging es durch die Nacht. Wir hatten schließlich noch zwei Berge vor uns. Der erste Berg forderte unsere ganze Kraft. In Serpentinen ging es aufwärts von ganz kurzen Powernaps unterbrochen. Ständig übermannt uns die Müdigkeit.
Schwieriger gestaltete sich der Abstieg. Wildes Gestrüp mit sehr steilen Wegabschnitten mit Erdrutschen verhinderte ein zügiges Vorankommen. Wenn der letzte Berg auch so schwierig sein sollte, dann würden wir den Zielschluss verpassen. Um 6 Uhr hatten wir den letzten Berg von ca. 600 Höhenmetern und ca. 20 Kilometern noch vor uns. Wir kämpften mit uns und gegen unsere Müdigkeit. Nach dem letzten Aufstieg zog sich der Weg noch etwas über das Fjell. Am Gipfel und beim Abstieg kamen uns Wanderer entgegen. Der Weg konnte nicht mehr so schwierig sein. Relativ zügig für unsere Verhältnisse konnten wir den Berg absteigen. Die letzten sechs Kilometer ging es jetzt durch Bergen. Jetzt endlich konnten wir abschätzen, dass wir es innerhalb des cut-offs schaffen würden. Vier Kilometer vorm Ziel teilte ich ein letztes Mal unseren Standort mit der Rennleitung und unseren Angehörigen. Auch wenn es leicht klingt, selbst die letzten Kilometer mussten erkämpft werden. Trotzdem war es nur noch 1 Prozent der Strecke!
Um 14:47 Uhr, gut eine Stunde vor dem Zielschluss, erreichten wir das Ziel in Bergen. Das Zielteam war trotz meiner Standortteilung überrascht über unser Ankommen. Wir waren überglücklich, als siebtes und letztes Team Bergen zu erreichen. Auch wenn wir nicht offiziell in der Wertung war, war uns diese Tatsache relativ egal. Wir fühlten uns als Finisher und so wurden wir auch von allen gefeiert. 504 Kilometer lagen hinter uns. Neun Tage, sechs Stunden und 47 Minuten waren wir erfolgreich als Team unterwegs ohne auch nur einmal zu streiten. Viele sehr schöne Momente, ganz viel Anstrengung, einige Blasen, zehn blaue Zehnnägel bei Tim, zerkratzte Beine, zerstochene Haut, wenig Schlaf (insgesamt ca. 36 Stunden) und ständig nasse Füße schweißten uns eher zusammen.
Im Ziel nahmen wir dann jegliche angebotene Nahrung mit Heißhunger an. Kurze Zeit nach unserer Ankunft begrüßte und beglückwünschte uns auch die Rennleitung zu unserem Finish.
Siegerehrung
Für 17 Uhr war die Siegerehrung angesetzt. Unser Nachtquartier und die Duschen waren unweit vom Ziel. Da wir nicht viel Zeit hatten beeilten wir uns mit der ersten Dusche nach über neuen Tagen. Der Schlamm hatte sich tief in die Waden eingearbeitet. Schnell noch ein warme Mahlzeit mit einem selbst mitgebrachten Finisherbier und ab zur Siegerehrung.
Bei der Siegerehrung wurde wir für die offizielle Wertung über 200 km geehrt und besonders herausgestellt, dass wir dennoch ins Ziel gekommen sind. Das Siegerteam, ein tschechisches Pärchen, und alle anderen wurden würdig geehrt. Einen Einblick kann euch das Video zeigen (leider kann ich es nicht einbetten):
https://www.facebook.com/oslobergentrail/videos/1530726354001657
Rückreise
Nach einer unruhigen Nacht im Sportzentrum brachte uns eine freundliche Helferin zum Bahnhof in Bergen. Dort ging es in sieben Stunden mit der Bergensbahnen zurück nach Oslo.
Nach einem verspäteten Rückflug von Oslo nach Berlin und einer kräftezehrenden Rückfahrt mit dem Auto nach Hause waren wir gegen 1:30 Uhr zu Hause angekommen. Anne hatte noch auf uns gewartet und beglückwunschte uns überglücklich zu unserem Finish. Komatöse fiehl ich ins Bett. In der Nacht sollte ich nochmal hochschrecken und denken, dass ich doch weiter laufen müsste!